Nur 55,3 Prozent der Minister und Staatssekretäre der Landesregierungen in Ostdeutschland kommen auch aus der Region zwischen Rügen und Erzgebirge. Das unterscheidet den Osten vom Westen.
Das Gefühl: An den Schaltstellen sitzen Westdeutsche
Zu den selbst gesetzten Aufgaben dieser Seite gehört es, nicht nur Produkte aus Ostdeutschland zu testen, sondern auch die politischen Entwicklungen zu beobachten. Wie bei den Produkten geht es auch immer darum, wieviel Ostdeutschland steckt wirklich drin? Und wenn man genauer hinschaut, ist oft schnell Etikettenschwindel entlarvt.
Wer in Ostdeutschland lebt – und Berlin ist dabei ausdrücklich ausgenommen – realisiert sehr schnell, dass ein Grund der Unzufriedenheit ein Gefühl der Fremdbestimmung zu Grunde liegt. Dass es 30 Jahre nach Wende und Wiedervereinigung zwischen Rügen und Erzgebirge immer noch nach westdeutscher Bevormundung riecht.
Kein Gespräch mit einem in Ostdeutschland sozialisierten Handwerker oder Mittelständler, das nicht irgendwann um diesen einen Punkt kreist: In ostdeutschen Behörden sitzen bis heute gebürtige Westdeutsche an den Schaltstellen der Macht. So wird es erzählt, so ist das Gefühl.
Die Studie: Kaum Ostdeutsche in der Verwaltungselite
Im Rahmen eines groß angelegtes Forschungsprojekts „Neue Eliten – etabliertes Personal?“ des Fachgebiets Public Management der Universität Kassel fanden die Forscher heraus: In der aktuellen Bundesregierung der Ampel-Koalition sank der Anteil der Kabinettsmitglieder aus Ostdeutschland auf rund 9 Prozent. Der Wert liegt damit niedriger als in den meisten Vorgängerregierungen nach 1990.
In der Ampelregierung gibt es mit Clara Geywitz und Steffi Lemke zwei ostdeutsche Ministerinnen und mit Reem Alabali-Radovan, Carsten Schneider und Michael Keller drei weitere in Ostdeutschland aufgewachsene Personen unter den Parlamentarischen Staatssekretären/Staatsministern.
Aus Ostdeutschland stammende Spitzenbeamte in der gesamtdeutschen Verwaltungselite sucht man fast vergeblich: Unter Staatssekretären und Abteilungsleitern in Bundesministerien und im Kanzleramt lag der Anteil der Ostdeutschen bis zum Ende der dritten Amtszeit von Angela Merkel meist bei rund einem Prozent, in der ersten Amtszeit von Gerhard Schröder und in der ersten Amtszeit von Angela Merkel gab es schlicht überhaupt keine Ostdeutschen in diesen Positionen.
Auch unter der neuen Ampelkoalition findet sich bisher nur eine im Osten Deutschlands aufgewachsene Staatssekretärin: Antje Draheim ist seit 8. Dezember 2021 Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit.
Die Wahrheit: Zur Hälfte regieren Westdeutsche Ostdeutschland
Für uns ein Grund, einmal nachzuzählen: Wie viele Minister in Ostdeutschlands Landesregierungen haben auch ostdeutsche Wurzeln, wie viele Kabinettsmitglieder kommen überhaupt aus dem jeweiligen Bundesland? Wir haben die Recherche nicht auf die Riege der Minister beschränkt, sondern auch die Herkunft der Staatssekretäre untersucht.
Das Ergebnis ist eindeutig: 42,5 Prozent der Ministerpräsidenten und Minister in Ostdeutschland kommen aus dem Westen. Zum Vergleich: Kein einziger Ministerpräsident oder Minister in Westdeutschland kommt aus dem Osten.
Haben im Westen 67 Prozent der Kabinettsmitglieder Wurzeln in dem Bundesland, das sie regieren, so sind es in Ostdeutschland nur 44,7 Prozent.
Noch drastischer sieht es bei den Staatssekretären in Ostdeutschland aus: Hier haben nur 38,7 Prozent heimatlichen Stallgeruch. Insgesamt kommen 50 Prozent der Staatssekretäre in Ostdeutschland aus Westdeutschland.
Landesregierungen: Sachsen hui, Brandenburg pfui
Die nicht ganz ernst gemeinte Überschrift soll regionale Unterschiede verdeutlichen: Die Landesregierung des Freistaates Sachsen unter Michael Kretschmer, CDU, setzt auf Regionalität. Im Kabinett in Dresden sitzen neun Ostdeutsche, davon acht gebürtige Sachsen.
In Brandenburg sind Westdeutsche mit einem Verhältnis von 6:5 in der Mehrheit und nur vier Minister kommen aus der Region zwischen Prignitz und Spree-Neiße. In Mecklenburg-Vorpommern sind es drei von zehn Ministern.
Eine ganze andere Situation in Thüringen: Dort regieren acht Ostdeutsche (bei nur zwei Westdeutschen, darunter Ministerpräsident Bodo Ramelow, Die Linke) den Freistaat, aber auch nur zwei Mitglieder wurden in dem Bundesland geboren.
61,5 Prozent der Ministerpräsidenten und Minister in Ostdeutschland kommen auch aus dem Osten
Bundesland | Ost | West | Aus dem Bundesland |
Brandenburg | 5 | 6 | 4 |
Mecklenburg-Vorpommern | 6 | 4 | 3 |
Sachsen-Anhalt | 4 | 6 | 4 |
Sachsen | 9 | 2 | 8 |
Thüringen | 8 | 2 | 2 |
Gesamt in % | 61,5 | 42,5 | 44,7 |
Sonderfall Berlin: 54,5 Prozent der Senatoren kommt aus Ostdeutschland
Berlin | Ost | West | Aus Berlin |
6 | 5 | 3 | |
Gesamt in % | 54,5 | 45,5 | 27,3 |
Zum Vergleich: 100 Prozent der Ministerpräsidenten und Minister in Westdeutschland kommen auch dem Westen
Bundesland | Ost | West | Aus dem Bundesland |
Baden-Württemberg | 0 | 13 | 9 |
Bayern | 0 | 15 | 14 |
Bremen | 0 | 10 | 1 |
Hamburg | 0 | 12 | 7 |
Hessen | 0 | 12 | 7 |
Niedersachsen | 0 | 11 | 6 |
Nordrhein-Westfalen | 0 | 14 | 12 |
Rheinland-Pfalz | 0 | 10 | 9 |
Saarland | 0 | 7 | 7 |
Schleswig-Holstein | 0 | 8 | 3 |
Gesamt in % | 0 | 100 | 67 |
Staatssekretäre in Ostdeutschland: Kaum Wurzeln im Bundesland
Noch eindeutiger fällt das Ergebnis bei den Staatssekretären aus. Die Hälfte der Politiker, die diesen Posten bekleiden, kommen aus Westdeutschland, nur knapp über ein Drittel hat auch Wurzeln im jeweiligen Bundesland.
Blickt man auf die Altersstruktur, so scheint bei der Besetzung der Staatssekretäre noch zu wirken, dass mit der Wiedervereinigung viele Verwaltungsspezialisten aus Westdeutschland eingestellt wurden. Diese haben sich natürlich ihre eigenen Netzwerke geschaffen.
50 Prozent der Staatssekretäre in Ostdeutschland kommen aus Westdeutschland
Bundesland | Ost | West | Aus dem Bundesland |
Brandenburg | 5 | 7 | 3 |
Mecklenburg-Vorpommern | 8 | 5 | 8 |
Sachsen-Anhalt | 5 | 7 | 4 |
Sachsen | 5 | 7 | 4 |
Thüringen | 8 | 5 | 5 |
Gesamt in % | 50 | 50 | 38,7 |
Ostdeutschland: „Mandatsbeschaffungsinstitution für Westimporte”
Denis Huschka, 47, früher Referatsleiter im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) schreibt in einem Beitrag für „Berliner Zeitung – Open Source“: Es sei „nicht akzeptabel, dass die vergleichsweise schwächeren, erst seit 1989 gegründeten ostdeutschen Orts- und Landesverbände in einigen Fällen als Mandatsbeschaffungsinstitution für „Westimporte“ missbraucht wurden und werden. Die anfangs sicher sinnvolle organisatorische, finanzielle und personelle westdeutsche Hilfe für die ostdeutschen Verbände hat ein Eigenleben entwickelt.“
In einem anderen Beitrag für das gleiche Medium warnt er: „Eine dauerhafte und strukturelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen ist … für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefährlich. Ost und West waren historisch betrachtet sehr eigenständigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ausgesetzt, deren Nachhall auch mehr als 30 Jahre nach der Wende das gemeinsame Wirtschaftssystem, das politische System und den Kitt der Gesellschaft herausfordert. Die innere Einheit Deutschlands scheint ganz und gar nicht abgeschlossen, dies wird immer wieder offenbar, sei es bei den Wahlergebnissen der AfD oder den Reaktionen auf die Corona-Maßnahmen.”
Der Anstoß: Eine neue Bewertung braucht das Land
Aber ist diese Diskussion überhaupt nötig.?Ist es wichtig, nach über 30 Jahren Wiedervereinigung und einem Bevölkerungsaustausch von rund fünf Millionen Menschen, dass jemand, der in Ostdeutschland wohnt, auch in Ostdeutschland geboren worden ist. Gibt es ein natives Ostdeutschland-Erklärbärrecht?
Rund 2,5 Millionen Westdeutsche sind nach Ostdeutschland gezogen, dazu etwa 800 000 Menschen mit ausländischen Wurzeln. Das Ostdeutschland, von dem alle reden – vor allem in Berlin und Westdeutschland – gibt es so nicht mehr. Es ist vielmehr eine Vorstellung in vielen Köpfen.
Die große Frage: Wer ist Westdeutscher, wer Ostdeutscher?
Was ist zum Beispiel mit Wolfgang Beck, 57, geboren im Allgäu, Studium in Konstanz und seit Januar 2022 Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt. Seit 1992 steht er im Dienst dieses ostdeutschen Bundeslandes; mit seiner Familie lebt er in der Landeshauptstadt Magdeburg. Ist er West- oder Ostdeutscher?
Oder nehmen wir Günther Jauch. Seit über 20 Jahren lebt der Journalist und Moderator in Potsdam, hat maßgeblich an der positiven Entwicklung der Stadt mitgearbeitet. Oder Rainhald Grebe, Liedermacher aus Köln, der ein Haus in der Uckermark hat und den ostdeutschen Ländern ihre heimlichen Hymnen (u. a. „Brandenburg“) schenkte.
Und anders herum gefragt: Darf eine Helen Orgis, Head of Content Strategy & Digital Growth EMEA, die in Borna in Sachsen geboren wurde, aber seit über zehn Jahren in München wohnt und sich dem Netzwerk „Wir sind der Osten“ angeschlossen hat, für Ostdeutschland reden? Oder Jana Hensel, auch in Borna geborene Schriftstellerin und von vielen zur Osterklärerin gemacht, die aber seit Jahren in Berlin Prenzlauer Berg und damit weit weg vom wirklichen Ostdeutschland lebt?
Und Bao (Name geändert), der einen Imbiss in Dresden betreibt und seit 1987 in Sachsen lebt, mittlerweile vier Häuser in Radebeul hat, Dynamo-Dresden-Mitglied ist und einen Förderverein unterstützt, der sich um Wanderwege in der Sächsischen Schweiz kümmert? Dessen Sohn in Leipzig Jura studiert…? Ossi oder Ausländer?
Im Grunde ist die Antwort auf die Fragen ganz einfach: Ostdeutscher ist, wer in Ostdeutschland lebt und sich in Ostdeutschland engagiert. Das native Erklärbärrecht ist nach über 30 Jahren abgelaufen. Deshalb wäre es gut, wenn Gruppen wie „Wir sind der Osten“ „3. Generation Ost“ aufhören würden zu versuchen, eine Spaltung der Gesellschaft in Deutschland und in Ostdeutschland künstlich am Leben zu halten.
Das Übel: Die „Fördergeldokratie“
Drei Dinge nerven die Ostdeutschen, egal ob in oder außerhalb Ostdeutschlands geboren: Ausgewanderte Ostdeutsche, die über Ostdeutschland reden, westdeutsch-sozialisierte (gerne dann auch in Ostdeutschland geborene) Journalisten, die in Ostdeutschland Auslandsreportagen machen – und ein Netzwerk aus Westdeutschen und ostdeutschen Einigungsgewinnern, die sich seit über 30 Jahren die Fördergelder hin- und herschieben.
Auf diese „Fördergeldokratie“ wird Ostkoster.de in Zukunft die Finger legen…
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